Was ist pragmatische Gewaltfreiheit? – Exkurs zu Gene Sharp

Zwei unterschiedliche Sichtweisen auf Gewaltfreiheit Exkurs zu Gene Sharp

Erst einmal zu der Frage: Was bedeutet Gewaltfreiheit? Es gibt keine universell gültige Definition des Begriffs. Zu den Grundprinzipien der Gewaltfreiheit lässt sich jedoch sagen, dass damit nicht nur passive Gewaltlosigkeit gemeint ist, sondern das Leisten von aktivem Widerstand gegen Gewalt,
Repression, Unterdrückung oder Diskriminierung. (vgl. Global Lernen 2013, S. 5) Gewaltfreiheit meint somit nicht das gleiche wie der Begriff Gewaltlosigkeit.

Burkhardt Bläsi (2004) differenziert zwischen zwei gänzlich unterschiedliche Sichtweisen auf
Gewaltfreiheit:
Die Pragmatische Gewaltfreiheit und die prinzipielle Gewaltfreiheit
Der Hauptunterschied der beiden Sichtweisen liegt darin, dass in der pragmatischen Gewaltfreiheit eine strategische Begründung für die Gewaltfreiheit vorliegt, das heißt, dass die Gewaltfreiheit aus taktischen Überlegungen heraus als Methode des Widerstands verwendet wird. Die Anwendung von Gewalt wird in dieser Sichtweise als Vorgehensweise nicht prinzipiell ausgeschlossen, wenn die Gewaltfreiheit als Methode nicht erfolgsversprechend erscheint. Während die prinzipielle Gewaltfreiheit vor allem eine ethische oder auch religiöse Begründung innenwohnen hat und einen Rückgriff auf Gewalt als Undenkbar erachtet, auch wenn die gewaltlose Vorgehensweisen sich als nicht erfolgsversprechend erweist. (vgl. Global Lernen 2013, S. 5)


Für Vertreter prinzipieller Gewaltfreiheit (z.B. Gandhi oder King) bedeutet Gewaltfreiheit ein umfassendes Lebensprinzip, das untrennbar mit den eigenen religiösen oder philosophischen Überzeugungen verbunden ist. Nach dieser Anschauung müssen sich Mittel und Zweck des Widerstandes stets in Übereinstimmung befinden, Gewaltfreiheit ist Weg und Ziel zugleich.
Pragmatische Gewaltfreiheit speist sich dagegen vorwiegend aus utilitaristischen Überlegungen:
Gewaltfreiheit wird unter den gegebenen Voraussetzungen als effektivste Strategie angesehen, die eigenen Ziele zu erreichen“ (Bläsi 2004, S. 415).


Vertreter der pragmatischen Gewaltfreiheit ist z.B. Gene Sharp, der in seinem in 40 Sprachen
erschienen Werk aus dem Jahr 1993: From Dictatorship to Democracy „ zu deutsch Von der
Diktatur zur Demokratie“ ursprünglich für die DemokratieBewegung in Myanmar verfasst, die
gewaltlose Befreiung aus Diktaturen untersuchte. Er beschreibt darin, dass gewaltloser Widerstand schon im Umsturz vieler Diktaturen eine entscheidende Rolle gespielt hätte. Mit gewaltlosen Widerstand, was Sharp synonym zu politischen Widerstand nutzt, meint er keineswegs den religiös oder ethisch motivierten Pazifismus, sondern lehnt an die Definition von Robert Helvey an, welcher dabei die Widerstands und GegenwehrDimension hervorhebt und eine Vorgehensweise der Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung gegen Diktaturen meint. (vgl. Sharp 2008, S. 109)

Seit 1980 seien bspw. in Madagaskar, Mali oder Bolivien Diktaturen durch vorwiegend gewaltfreien Widerstand zusammengebrochen und in anderen Regionen z.B. Nepal, Argentinien oder Südkorea durch den gewaltlosen Widerstand Demokratisierungsprozesse vorangetrieben worden. Er betont jedoch, dass auch durch den Sturz der Diktaturen nach wie vor sicher nicht alle Probleme in den jeweiligen Ländern gelöst worden seien, weil in vielen nach wie vor viel Armut, hohe Kriminalität oder Unterdrückung herrschen. (vgl. ebd., S. 13)

Er kommt zu dem Schluss, dass für viele zwar Gewalt als die naheliegendste Option zum Sturz eines diktatorischen Regimes erscheint, hier jedoch ein Fehlschluss vorliegt, da Gewalt als Methode zur Befreiung die Gefahr beinhaltet, dass es daraufhin zu einer noch stärkeren und brutaleren Unterdrückung durch das Regime kommen kann und sich das Volk am Ende in einer noch hilfloseren Lage befinden könnte.

Er warnt auch: „Wenn man auf gewaltsame Mittel vertraut, entscheidet man sich  genau für die Art von Kampf, bei der die Unterdrücker so gut wie immer überlegen sind.“ (ebd., S. 16f.)


Damit meint er vor allem die militärischen Möglichkeiten des unterdrückenden Regimes. Einen
Militärputsch betrachtet Sharp zwar als potentiell erfolgsversprechend in seiner Durchführung,
erkennt darin jedoch die Gefahr, dass sich dadurch nichts an dem bestehenden Machtverhältnis
zwischen einer elitären Gruppe und dem Volk änderte und sich auch nur die Machthabenden ändern können, ohne dass damit demokratische Prozesse in Gang gesetzt werden. Das sei zwar nicht ausgeschlossen, jedoch auch keine zwangsläufige Reaktion auf einen Militärputsch, da er sich auch der Demokratie entzieht.
(vgl. ebd., S. 1819)

Sharp sieht die Lösung gegen Diktaturen auch nicht in ausländischen Interventionen und warnt vor zu naivem Vertrauen gegenüber anderen Staaten, denn diese würden häufig auch mit Diktaturen zu ihren eigenen Gunsten zusammenarbeiten und hätten selten humanistische oder altruistische Gründe, sondern eigennützige, wenn sie in einem Land intervenieren, das von einer Diktatur unterdrückt wird. Er sieht außerdem die Gefahr, dass ausländische Staaten selbst Interessen verfolgen könnten wirtschaftliche oder soziale Kontrolle über einen unterdrückenden Staat erlangen zu wollen, den sie vorgeben retten zu wollen. (vgl. ebd., S. 1819)

Als maßgeblich für die Befreiung aus Diktaturen sieht er die Fähigkeit der Menschen sich selbst zu befreien und sieht es dafür als unabdingbar an, dass ihr Selbstvertrauen in ihre Widerstandsfähigkeiten gestärkt wird und sie sich zu einer intern durchsetzungsfähigen
Widerstandsbewegung organisieren und Strategien entwickeln. (vgl. ebd., S. 2021) Den gewaltlosen Kampf beschreibt der Autor als eine vielfältigere und komplexere Methode als den Weg der Gewalt.
Er würde auf verschiedenen Dimensionen geführt werden der 1. psychologischen, 2. sozialen, 3. politischen und 4. ökonomischen. (vgl. ebd. S. 44)

Er beschreibt eine Vielzahl von Möglichkeiten des Gewaltfreien Widerstandes darunter
Protestmärsche, Streiks, ziviler Ungehorsam in Form der Befehlsverweigerung und
Nichtzusammenarbeiten. Er betont jedoch, dass es eine sehr große Vielfalt an „Waffen“ im
gewaltfreien politischen Kampf geben würde. (vgl. ebd., S. 45)

Er kommt durch seine Analyse zu dem Schluss, dass der gänzliche Verzicht auf Gewalt nicht immer möglich ist und in einigen Fällen begrenzte Gewalt gegen die Unterdrücker unverzichtbar werden könnte, jedoch sei es immer ein wichtiges Abwägen, ob dadurch eine nie endende Spirale der Gewalt in Gang gesetzt werden könnte, die in noch stärkerer Unterdrückung der Bevölkerung nach dem gewalttätigen Befreiungsversuch enden könnte. (vgl. ebd., S. 47) Gewaltfreiheit, welche ethisch oder religiös motiviert sei, sei jedoch nicht inkompatibel mit der pragmatisch begründeten Gewaltfreiheit, so könnten Menschen beider Beweggründe gemeinsam Protest ausführen und die verschiedenen Methoden bzw. Waffen der Gewaltfreiheit gemeinsam nutzen, so Sharp. (vgl. ebd., S. 115)

 

 

Quellen:
Bläsi, Burkhard (2004): Gewaltfreier Widerstand. In: Sommer, Gert/Fuchs, Albert (Hrsg.): Krieg und
Frieden. Handbuch der Konflikt und Friedenspsychologie. Weinheim: Beltz, S. 412424.

Global Lernen (2013): Gewaltfreiheit. In: Brot für die Welt (Hrsg.), Ausgabe 2.

Sharp, Gene (2008): Von der Diktatur zur Demokratie Ein Leitfaden für die Befreiung (Original:
1993). Verlag C.H Beck, München.

Datum: 31. Oktober 2022

Mein erster Blog-Eintrag ist online meine Lieben 🙂 Zitat daraus "Vertreter der pragmatischen Gewaltfreiheit ist z.B....

Gepostet von Marisa's politischer Diskurs - Stiftung Gewaltfreies Leben am Donnerstag, 10. November 2022