Warum Deutschland nicht im positiven Frieden lebt!

Exkurs zu Johann Galtung’s Definition von positivem und negativem Frieden

Lässt sich Frieden messen? In den Debatten dazu hat die von Johann Galtung eingeführte Differenzierung zwischen negativem und positivem Frieden breite Akzeptanz gefunden.

Negativer Frieden definiert den Zustand des Friedens als die Abwesenheit von Krieg oder struktureller Gewalt. Es geht also um die Abnahme von Gewalt.

Positiver Frieden beinhaltet auch die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und einer Kultur des Friedens zwischen Menschen innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Staaten. Somit geht es um die Zunahme von sozialer Gerechtigkeit.

Galtung sieht Frieden als einen niemals endenden Prozess, in dem Konflikte kreativ, mit Empathie und ohne Gewaltanwendung transformiert werden, der auch aktive Teilnahme verlangt.

By peace we mean the capacity to transform conflicts with empathy, without violence, and creatively – a never-ending process.“ – Johann Galtung.

Auch eine Vielzahl von Friedensforschern sind sich darin einig, „dass Frieden ein komplexer und langfristiger Prozess ist, der auf mehreren Ebenen verläuft. In diesem Prozess lassen sich Teilschritte zum Frieden identifizieren und die Abnahme von Gewalt und die Zunahme von Gerechtigkeit messen.“ (Friedensbildung aktuell 02/2018)

Das Institute for Economics and Peace (IEP) erweiterte Galtungs Konzept des positiven Friedens, welches von Kritikern häufig als zu unpräzise definiert bemängelt wird, um die acht Säulen des positiven Friedens um damit Indikatoren zur Messung von Frieden zu konzipieren.

Jede der jeweiligen Säulen muss intakt sein, um eine funktionierende Gesellschaft zu gewährleisten, welche stabil, sicher und frei von struktureller Gewalt ist.

  1. Funktionierende Regierung
  2. Gleiche Verteilung von Ressourcen
  3. Freier Informationsfluss
  4. Pflege internationaler Beziehungen, Gute kommunale/regionale Beziehungen
  5. Hohes Level an Human Kapital
  6. Akzeptanz des Recht des Anderen
  7. Geringes Niveau an Korruption
  8. Solides Geschäftsumfeld

(vgl. Deutscher Friedensindex 2020, S. 40)

Wenn man Frieden als einen Mehrebenenprozess deutet, wird deutlich, dass dessen Wahrung oder Herstellung nicht nur Aufgabe von Politikern, Diplomaten oder gar Generälen ist, sondern es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, bei der alle Gesellschaftsmitglieder gefragt sind. (vgl. Friedensbildung aktuell 2018)

Folgt man den Ausführungen zu positiven Frieden, die damit Frieden weiter definieren als einen bloßen Zustand des Nicht-Krieges oder das Fernbleiben struktureller physischer Gewalt, sollte sichtbar werden, dass auch Länder wie Deutschland damit nicht im positiven Frieden leben. Denn auch Industriestaaten wie Deutschland, die derzeit nicht direkt in einem Krieg involviert sind (wenn man die Anteilnahme an den Waffenlieferungen in die Ukraine und der Ausbildung ukrainischer Soldaten außen vor lässt), erfüllen häufig nicht alle acht Säulen des positiven Friedens. Um nur einige Beispiele zu skizzieren: Akzeptanz von Korruption und Lobbyismus-Beeinflussung in der Politik, unfaire Verteilung, bei der Arme von immer mehr Abstiegsmobilität betroffen sind und Reiche immer weiter nach oben steigen. Nachtwey spricht in dem Kontext vom „Rolltreppeneffekt“. (vgl. Nachtwey 2016)

Zudem gibt es weiterhin existentielle Nöte der Absteiger, fehlender Zugang für bestimmte ökonomisch abgehängte Gruppen zum Informationsfluss (Bsp: Unter 2 Euro sind im Hartz4 Satz für Bildung vorgesehen, keine kostenlosen Hotspots für Internetzugang usw.), Patente auf Forschungsstände mit gesellschaftlicher Relevanz bspw. in der Medizin, Vernachlässigung des sozialen Bereichs sowie Gesundheits- und Bildungsbereich durch die Politik, zunehmende Verlagerung der Existenzsicherung im Notfall bzw. Alter in die eigene Verantwortung und private , Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden (sanktionierenden) Sozialstaat, schichtspezifische Bildungsungleichheit und eine steigende Kinderarmut mit niedrigeren verbundenen Chancen für die Zukunft sind klare Anzeichen dafür, dass der Prozess der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit massive Defizite aufweist in Deutschland und derzeit nicht von einem Zustand des positiven Frieden gesprochen werden kann. Vor allem dann nicht, wenn weiter an der neoliberalen Ausrichtung des Politisch-Ökonomischen festgehalten wird und sich durch den damit verbundenen Sozialstaatabbau bei zunehmender Privatisierung, Profitorientierung und dem Rückgang der Steuerprogression die Lage noch verschärfen könnte, was einen realen Rückgang der sozialen Gerechtigkeit bedeuten könnte. Deutschland entfernt sich dadurch von der Konzeption des positiven Friedens.

Selbst der Deutsche Friedensindex (2020), der in meinen Augen sehr zaghafte Analysen zieht, legt offen, dass 30 von 38 Regionen in Deutschland zwischen 2013 und 2018 eine Verschlechterung des Wertes für positiven Friedens erfahren haben. (vgl. S. 48)

Seit 2015 habe sich der Wert deutschlandweit um 2,2 Punkte verschlechtert. Nach dieser Analyse belegte Deutschland 2018 aber immer noch den 11. Platz im internationalen Ranking. Die ersten drei Plätze belegten 1. Norwegen, 2. Finnland und 3. Schweden. (ebd., S. 43)

 

Quellen:

Deutscher Friedensindex (2020)

Friedensbildung aktuell 02/2018

Nachtwey, Oliver (2016): Abstiegsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin.

Datum: 20. November 2022

Ein neuer Blogeintrag zur Frage, ob wir in Deutschland im von Galtung definierten positiven Frieden leben. "Positiver...

Gepostet von Marisa's politischer Diskurs - Stiftung Gewaltfreies Leben am Sonntag, 20. November 2022