Die Geschichte der Psychiatrie – eine Geschichte der Gewalt

 Geschichte Der Psychiatrie – Eine Geschichte der Gewalt Teil 1

Die Auffassung psychischer Krankheiten unterlag stets den Einflüssen von Ort und Zeit. In verschiedenen Kulturen und Epochen existierten unterschiedliche Herangehensweisen im Umgang mit Menschen, die als psychisch krank angesehen wurden. Bereits in der Frühgeschichte, beispielsweise im antiken Mesopotamien oder im alten Ägypten, wurden Maßnahmen ergriffen, um mit als „wahnsinnig“ deklarierten Personen umzugehen. Dabei wurden Verbindungen zu Göttern und Dämonen hergestellt, und Priesterärzte setzten Rituale, Amulette und Beschwörungsformeln zur Behandlung ein. Über lange Zeit hinweg war die Interpretation psychischer Krankheiten stark mit religiösen Vorstellungen verbunden, was auch im europäischen Mittelalter der Fall war. Dort begann man erste Ansätze zu entwickeln, um psychische Krankheiten systematisch zu erfassen, wie beispielsweise die Lehre der „Vielsäfte“. Dennoch wurde psychische Krankheit weiterhin als Resultat dämonischer Einflüsse angesehen. In der frühen Neuzeit trug diese Denkweise mit bei zur sogenannten „Hexenverfolgung“, bei der Beschuldigten Einfluss von Dämonen oder dem Teufel vorgeworfen wurde. Im 17. Jahrhundert begann man laut Focault als psychisch krank Gebranntmarkte von der Gesellschaft wegzusperren. Dieses System war stark repressiv.

Die Geschichte der modernen Psychiatrie geht zurück auf das 18. Jahrhundert. Man stößt bei Recherchen zur Geschichte der modernen Psychiatrie in Europa unweigerlich auf den Namen des Franzosen Philippe Pinel (1745-1826). Die Französische Revolution und das Zeitalter der Aufklärung markierten einen Wendepunkt im Verständnis und der Behandlung psychischer Krankheiten. Dabei wurden die Vorstellungen von Besessenheit und Sündhaftigkeit als Ursachen für seelische Auffälligkeiten weitgehend abgelöst. Pinel wurde zum Direktor des „Hôpital de la Salpêtrière“ in Paris, einer der bekanntesten psychiatrischen Anstalten Europas seiner Zeit. Er wird damit in Verbindung gebracht die Grundlagen der modernen psychiatrischen Diagnostik mitbegründet zu haben. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass auch psychische Erkrankungen einer analytischen Herangehensweise bedürfen und einer systematischen Untersuchung sowie Methodik unterzogen werden müssen und nicht mit dem christlich-religiösen Verständnis von Sünde verwechselt werden sollten. Laut Focault waren seine Methoden jedoch nicht weniger repressiv als ältere Methoden. Seine Bemühungen waren weniger darauf ausgerichtet, die Krankheit zu behandeln, sondern  zielten vielmehr darauf den Kranken in die gesellschaftliche Norm zu integrieren, ihn in die Arbeitswelt zu integrieren und ihn den vorherrschenden patriarchalischen moralischen Vorstellungen zu unterwerfen.

Die Geschichte der europäischen Psychiatrie und die Entwicklung des Kapitalismus sind nicht nur zeitlich eng miteinander verbunden. Im Zuge des Aufstiegs des Kapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert erlebte Europa einen tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Dieser Wandel hatte auch Auswirkungen auf die Vorstellungen und den Umgang mit psychischer Krankheit.

Mit der Entstehung des Kapitalismus entwickelte sich eine neue soziale Ordnung, die individuelle Leistungsfähigkeit und Produktivität in den Vordergrund stellte. Arbeitskraft und Arbeitsdisziplin wurden zu zentralen Werten, und Menschen, die nicht den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprachen, gerieten zunehmend in den Fokus gesellschaftlicher Ausgrenzung.

Psychische Krankheiten wurden im Kontext des Kapitalismus oft als Hindernis für die Arbeitskraft angesehen. Menschen mit psychischen Erkrankungen galten als „unproduktiv“ und wurden als Störfaktoren betrachtet, die die Effizienz und den reibungslosen Ablauf des kapitalistischen Systems beeinträchtigten.

Diese Vorstellungen spiegelten sich auch in den psychiatrischen Ansätzen wider. In der Zeit der Industrialisierung wurden psychiatrische Anstalten und Krankenhäuser errichtet, um Menschen mit psychischen Krankheiten zu „behandeln“ und gleichzeitig aus der Gesellschaft zu exkludieren. Dabei wurde physische und psychische Gewalt angewendet, weil man glaubte durch Einschüchterung könnte man Betroffene behandeln.

Darüber hinaus trugen die aufkommende medizinische Wissenschaft und die Entwicklung psychiatrischer Theorien dazu bei, psychische Krankheiten als medizinische Phänomene zu definieren und zu klassifizieren. Dies führte zur Entstehung einer professionellen psychiatrischen Disziplin, die sich mit der Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen befasste, doch stets großen und folgeschweren Irrtümern unterlag.

Praktiken die heute als Foltermethoden gelten fanden ihren Einsatz. Menschen, die als „geisteskrank“ deklariert wurden, wurden aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wobei die Deklaration des Wahnsinns wie Focault beschreibt einer gesellschaftlichen Konstruktion unterlag. Was als wahnsinnig gilt ist stets davon abhängig, was konträr als vernünftig betrachtet wird. Beispielsweise wurde 1935 die erste Lobotomie durchgeführt und dies wurde flächendeckend in den meisten Industriestaaten eingesetzt. Dadurch gab es auch einen Anstoß für die Antipsychiatrie-Bewegung. Die grausame und unmenschliche Methode der Lobotomie hatte folgenschwere Auswirkungen auf Betroffene. Mit dem Medikament Chlorpromazin wurde  im Jahr 1952 das erste Psychopharmakon massenhaft auf den Markt gebracht. Aufgrund der folgenschweren Nebenwirkungen geriet die Lobotomie bereits Mitte der 50er Jahre in Kritik , allerdings wurde die Methode in vielen Ländern bis in die 80er Jahre weiter verwendet, während sie in anderen Ländern wie der Sowjetunion bereits früher verboten wurde. Dem Erfinder des Verfahrens António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz verlieh man sogar einen Nobelpreis für die Entdeckung dieser grausamen und folgenschweren Methode. Heute würde man Forscher, die so etwas vorschlagen wohl keinen Nobelpreis mehr verleihen, trotzdem ist die psychiatrische Schulmedizin weiterhin von gesellschaftlichen Normen und einem starken materialistischen Bezugspunkt abhängig. Auch Medikamention, insbesondere unter Zwang, steht zunehmend in der Kritik, da diese in vielen Fällen erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen kann. (Trotzdem kann es in manchen Fällen sinnvoll sein medikamentös behandelt zu werden.)

Die Geschichte der Psychiatrie, die von vielen Irrtümern und Unmenschlichkeiten sowie Gewalt geprägt war, sollte deutlich machen, dass es gerade wenn es um die Psyche von Menschen geht, es zu Fehleischätzungen kommen kann. Natürlich kann trotz berechtigter Kritik, die auch heute noch angewendet werden kann wie z.B. von der Anti-Psychiatriebewegung eine Therapie in stationärer Form trotzdem in bestimmten Fällen zu empfehlen sein. Gewalt in Psychiatrie gegen Insassen bleibt allerdings ein Tabuthema, Betroffene werden häufig nicht ernstgenommen und durch Mentalismus und Ableismus in der Gesellschaft oder institutionell diskriminiert. Es darf kein Tabuthema bleiben! In einem weiteren Blogartikel werde ich über die Geschichte der Psychiatrie im Zeiten des Nationalsozialismus schreiben.

 

Quellen:

Mariana Barbic (2019) : Von Dämonen und Neuronen – eine kurze Geschichte der Psychiatrie: https://www.geschichte-lernen.net/kurze-geschichte-psychiatrie-antike-bis-moderne/

 

Michel Focault (1961): Wahnsinn und Gesellschaft

 

Burkhard Brückner (2014)  Geschichte der Psychiatrie – Basiswissen. 2. Auflage  

 

Burkhart Brückner, Lukas Iwer und Samuel Thoma (2017): Die Existenz, Abwesenheit und Macht des Wahnsinns. Eine kritische Übersicht zu Michel Foucaults Arbeiten zur Geschichte und Philosophie der Psychiatrie