Das Verhältnis Emotionalität und Rationalität und der Mythos der weiblichen und männlichen Gehirnhälfe

Was ist der Zusammenhang zwischen Rationalität und Emotionalität und was ist dran am Mythos der „männlichen“ und „weiblichen“ Gehirnhälfte?
 
Rationalität und Emotionalität werden häufig in der Gesellschaft als zwei gegensätzliche sich gegenseitig ausschließende Eigenschaften gesehen. Doch hier besteht ein Trugschluss. Rationalität und Emotionalität schließen sich nicht gegenseitig aus, sie stehen in einer komplexen Wechselwirkung zueinander. Es ranken sich viele Mythen zu dem Thema, die auch einen Zusammenhang zum Gehirn und den Geschlechtern aufweisen.
 
Lange Zeit ging man davon aus, dass die linke Gehirnhälfte, welche oft mit dem „männlichen Part“ beschrieben wurde, für das rationale und analytische Denkverhalten zuständig sei, während die rechte bzw. „weibliche“ Gehirnhälfte für Emotionalität und Kreativität verantwortlich wäre. Heute weiß man aus der moderneren Hirnforschung, dass dies ein nach wie vor weitverbreiteter Mythos ist, der jedoch widerlegbar ist.
“Es konnte seit den 1980er-Jahren nachgewiesen werden, dass auf der neuronalen Ebene bei menschlichen Denkprozessen sowohl der Neocortex als auch ältere, mit dem Gefühlshaushalt der Menschen assoziierte Hirnregionen (Hypothalamus, Hypophyse) aktiviert werden“ (Scherke 2009, S. 17)
Dies ist ein entscheidender Hinweis dafür, dass Denken und Fühlen in einem engen Zusammenhang zueinander stehen. Heute geht man davon aus, dass die beiden Hirnhälften zwar unterschiedliche Informationsverarbeitungsmethoden aufweisen, es allerdings keine exklusiven Zuständigkeiten gibt und sie beide zusammenarbeiten und auch jeder Mensch, unabhängig von seinem Geschlecht beide Gehirnhälften nutzt. Dass es eher rational denkende und eher emotionale Menschen gibt ist natürlich keine Lüge, allerdings steht dies nicht rein damit in Zusammenhang, welche der beiden Gehirnhälften eher genutzt wird oder welches Geschlecht eine Person hat.
 
Auch das Geschlechtsschema hinsichtlich der emotionalen Verarbeitung gilt heute als überholt. Angelehnt an Nussbaum schlussfolgert Tetzer: „Die Annahme von natürlichen Unterschieden in der Emotionalität von Frauen und Männern wird dementsprechend hinsichtlich der sozialen Konstruktion von Gefühlen verworfen. Das Frauen und Männer Gefühle unterschiedliche erleben, bewerten und mit ihnen umgehen, ist nicht das Ergebnis einer unterschiedlichen biologischen Disposition, sondern resultiert aus unterschiedlichen Erziehungs- und Sozialisationsprozessen“ (Tetzer 2009, S. 115) Gefühle werden somit nicht als „bloße unveränderliche natürliche Erregungszustände, sondern [auch als] soziale Konstruktionen“ definiert, welche durch die Überzeugungen und Wertungen zugänglich werden. Gefühle bestimmen die Einstufung von Situationen, das Empfinden für richtig, falsch, gut und schlecht, womit sie eine tragende Rolle für die moralische Entwicklung spielen. Emotionalität und die Entwicklung von Moral haben eine sich gegenseitig bedingende Wechselwirkung zu einander.
„Durch [die] erkennende und bewertende Funktion [von Emotionen], werden Gefühle in diesem Ansatz als wesentlicher Bestandteil von Rationalität anerkannt und nicht im Bereich des unbeherrschbaren Irrationalen verortet“ (Tenzer 2009, S. 113)
 
Somit sollte deutlich werden, Emotionalität und Rationalität schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern haben eine wechselseitige Beziehung zueinander. Der sogenannte „konventionelle Zugang“, welcher Emotionalität und Rationalität strikt voneinander trennt, gilt heute als überholt, vor allem unter Betrachtung neurologischer Aspekte und moderner psychologischer Überlegungen erweist sich dieser Zugang schnell als Trugschluss.
„Die kritische Sicht des Verhältnisses von Rationalität und Emotionalität betont der konventionellen Vorstellung gegenüber, dass Emotionen der Kognition, d. h. der rationalen Überlegung, überhaupt erst ein Ziel geben. Gefühl und Verstand werden zwar auch in dieser Sichtweise als zwei verschiedene Phänomene betrachtet, allerdings wird eine engere Zusammenwirkung zwischen ihnen angenommen“ (Scherke 2009, S. 20)
Neurobiologische Untersuchungen sprechen eher für diese Betrachtungsweise, trotz der langen Vorherrschaft des konventionellen Ansatzes.
 
Eine Trennung von Rationalität und Emotionalität , bei der die Rationalität der Emotionalität übergeordnet wird, birgt die Gefahr, dass daraus ein „kalter Pragmatismus“ resultiert, der emotionale Aspekte von Menschen und moralische Wertigkeiten ausklammert und die konstruierte Lebensrealität rein in diese Sicht einbettet. Dabei können grundlegende menschliche Bedürfnisse übersehen werden oder in ihrer Wertigkeit „wegrationalisiert“ werden. Ethische Fragen lassen sich nicht ohne Zugang zur Emotionalität beantworten. Doch ohne Rationalität kann Emotionalität auch zu impulsiven, affektivem Handeln führen. Somit sollten beide Bereiche als Notwendigkeit betrachtet werden, welche sich gegenseitig beeinflussen und regulieren können.
Auch eine Gleichsetzung mit Geschlechtern ohne dabei sozialisationsbedingte Faktoren zu betrachten birgt die Gefahr von stereotypischen Bildern, wie sie heute nach wie vor verbreitet und reproduziert werden. Frauen sind nicht zwingend emotionaler als Männer und umgekehrt Männer nicht zwingend rationaler als Frauen. Es gibt generell keine Menschen, die entweder nur emotional oder nur rational veranlagt sind, auch wenn eine Seite ausgeprägter sein kann als die andere und es durch Erziehung und Sozialisation auch Überschneidungen mit den Geschlechtsunterschieden geben kann.
 
Quellen:
 
Scherke, Katharina (2009): Emotionen als Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden.
 
Tetzer, Michael (2009): Zum Verhältnis von Emotionalität und Rationalität in der Sozialpädagogik. In: Meyer, Christiane et. Al (Hrsg.): Liebe und Freundschaft in der Sozialpädagogik
Personale Dimension professionellen Handelns. VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden.
 

 

Datum: 2. Januar 2022

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Gepostet von Marisa's Blog Diskussionsforum - Stiftung Gewaltfreies Leben am Sonntag, 1. Januar 2023