Es gibt nicht nur eine Widersprüchlichkeit des Systems, in dem wir leben und sozialisiert werden, sondern auch eine innere Widersprüchlichkeit des Menschen, die älter ist als das System. Es ist wohl unbestreitbar, dass die innere Spaltung des Menschen – z.B. der Widerstreit zwischen Egoismus und Solidarität, zwischen Angst vor Konsequenzen und Mut zu sterben, zwischen Fürsorge und Hass– nicht erst im Kapitalismus entstand. Unsere evolutionäre Geschichte hat uns sowohl mit der Fähigkeit zur Kooperation als auch mit der zur Konkurrenz und Kampf ausgestattet. Doch die materielle Realität, in der wir leben, entscheidet darüber, welche dieser Tendenzen gefördert und welche unterdrückt wird.
In kapitalistischen Systemen wird der Egoismus nicht nur geduldet, sondern systematisch gefördert. Das Prinzip des Wettbewerbs, die Ideologie des „jeder ist seines Glückes Schmied“ und die ständige Angst um den eigenen Status und das Überleben zwingen viele, ihre egoistischen Züge zu kultivieren. Solidarität, Empathie und Gemeinschaftssinn werden zu Luxusgütern, die man sich in diesem beständigen Konkurrenzkampf nur selten leisten kann, ohne dass Nachteile für die eigene Lebenssicherheit resultieren.
Die Entfremdung, dieses Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, ist daher kein rein innerer Konflikt. Sie ist das direkte Resultat einer Gesellschaft, die uns zwingt, unsere Arbeit als Mittel zum Zweck zu sehen und uns von den Früchten unserer eigenen Hände trennt. Wenn wir uns selbst nur noch als Zahnräder in einem großen, anonymen Getriebe wahrnehmen, wie sollen wir dann noch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sinnhaftigkeit entwickeln?
Ein rein individueller Weg aus dieser Misere ist ein Trugschluss. Es ist die zentrale Aufgabe, die materiellen Verhältnisse zu ändern, da sie die Ursache für die Verstärkung unserer negativen Tendenzen sind. Ein Mensch, der jeden Tag um seine Existenz bangen muss, wird deutlich seltener in der Lage sein, seine altruistischen Anteile zu leben, da die Umstände ihn dazu zwingen, in erster Linie an sich zu denken. Es ist für viele ein täglicher Kampf um das Überleben und die Existenz.
Das Bewusstwerden unserer inneren Widersprüche ist ein erster wichtiger Schritt, doch es muss letztendlich in kollektivem Handeln münden. Das Erkennen der eigenen inneren Konflikte – des Widerspruchs zwischen dem Wunsch nach Gerechtigkeit und der erzwungenen Teilhabe an einem ungerechten System – muss zum Motor für den Widerstand gegen dieses System werden. Erst wenn die materiellen Bedingungen geschaffen sind, die nicht mehr Konkurrenz, sondern Kooperation belohnen, können wir als Gesellschaft unser volles menschliches Potenzial entfalten.
Das Ziel ist also nicht, uns in einem feindseligen System „spirituell zu befreien“, sondern das System so zu verändern, dass es unsere besten Seiten fördert. Die innere Revolution ist nur ein Teil der notwendigen äußeren Revolution. Nur wenn wir die materiellen Grundlagen schaffen, die unseren humanistischen Werten entsprechen, können wir die Entfremdung überwinden und eine Gesellschaft aufbauen, die unsere innersten Sehnsüchte nach Solidarität und Sinnhaftigkeit erfüllt.
Datum: 15. August 2025
Hey 🙂 Danke schon Mal, dass ihr der Einladung gefolgt seid. Ich hab bisher kaum jemanden eingeladen, gerade ist der...
Gepostet von Marisa Blog - Stiftung Gewaltfreies Leben am Donnerstag, 27. Oktober 2022