Polizeigewalt gegen Menschen in psychischen Ausnahmesituationen – der Fall Mouhamed ist kein Einzelfall

Im Jahr 2024 wurden bislang 19 Menschen in Deutschland von der Polizei getötet. Damit war ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr festzustellen, in dem zehn Menschen verzeichnet wurden. Zwischen 2014 und August 2024 gab es 122 Todesfälle in diesem Kontext. Bei 49 davon handelte es sich um Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Zwischen 2019 und 2024 war es sogar die Hälfte der durch die Polizei erschossenen Personen, die sich zu dem Zeitpunkt in einer psychischen Krise befand laut dem Verein „Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit“. Regelmäßig enden also Einsätze mit psychisch kranken Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden, tödlich für die betroffene Person. Menschen in psychischen Krisen sind die größte Risikogruppe für Polizeigewalt.

So auch im Fall von dem 16-jährigen Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé im Jahr 2022. Am 08. August 2022 wurde der Jugendliche durch fünf Schüsse aus einer Maschinenpolizei der Polizei getötet. Die Polizei wurde gerufen als er sich im Innenhof einer sozialen Einrichtung in Dortmund ein Messer an den Bauch hielt, als er sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat. Da eine Kommunikation aufgrund von fehlenden Deutschkenntnissen nicht möglich war ordnete der Dienstgruppenleiter an, dass Pfefferspray gegen Mouhamed eingesetzt werden soll. Daraufhin habe er sich auf die Polizisten zu bewegt, welche dann einen Taser zum Einsatz brachten. Nur einen kurzen Augenblick später feuert der Schütze Fabian S. gegen den 16-Jährigen. Mouhamed verstarb bald daraufhin im Krankenhaus.

Im Dezember 2024 kam es nun zu einem Freispruch für alle fünf beteiligten Polizisten und Polizistinnen. Das Landgericht kam zu dem überraschenden Urteil, dass weder der Schütze noch der Einsatzleiter strafrechtlich verantwortlich seien. Dieses Urteil, das öffentlich auch große Kritik stieß, ging sogar über die Forderungen der Staatsanwaltschaft hinaus, die nur für vier der fünf Angeklagten Freisprüche beantragt hatte. Den Schützen selbst sah sie jedoch nicht für schuldig. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, der Schütze habe sich irrtümlich in einer Notwehrsituation gewähnt. Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch für den Einsatzleiter eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und eine Bewährungsstrafe gefordert. Sie begründete dies damit, dass die Entscheidung, für den Einsatz von Pfefferspray unüberlegt und fehlerhaft gewesen sei und in diesem Kontext die tödliche Eskalation ausgelöst wurde. Ursprünglich war der Schütze von der Staatsanwaltschaft aufgrund von Totschlag angeklagt worden, während zwei Polizistinnen und ein Polizist sich wegen gefährlicher Körperverletzung vor Gericht verantworten mussten. Der Vorgesetzte stand unter dem Vorwurf, zu dieser Tat angestiftet zu haben. Die Staatsanwaltschaft hat Revision gegen den Freispruch des Dienstleiters eingereicht.

Die beschuldigten Polizeibeamten hatten vor Gericht ihr Vorgehen verteidigt. Ihrer Darstellung zufolge sollte der Jugendliche, der sich selbst mit einem Messer bedrohte, durch den Einsatz von Pfefferspray entwaffnet werden. Als dies jedoch nicht gelang und der Jugendliche angeblich überging zu einem Angriffsversuch, hätten sie aus ihrer Sicht in Notwehr handeln müssen. Nun wurde der Schütze Fabian S. Sogar verbeamtet nach seinem Freispruch.

Es ist mehr als fragwürdig fünf Schüsse mit einer Maschinenpistole als angemessene Notwehr gegenüber einer jugendlichen Einzelperson, die lediglich ein Messer hat, zu rechtfertigen. Der Bezug dazu, dass es sich bei Mouhamed oder bei all den vielen weiteren Betroffenen um Menschen handelte, die mit der richtigen Deeskalation und darauffolgender Hilfe wieder hätten gesund werden können, statt dass man ihr Leben für immer beendete, scheint bei vielen nicht vorhanden zu sein. Immer wieder wird Polizeigewalt gegen psychisch kranke Menschen in Ausnahmesituationen damit gerechtfertigt, dass diese z.B. während einer Psychose unberechenbar wären und die Polizei in erster Linie sich selbst und andere schützen muss vor potentiellen Gefährdungen. Gleichzeitig gibt es aber auch immer wieder Kritik an dem Polizeitraining, dass Polizisten nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet. Doch das Problem sitzt tatsächlich noch tiefer. Es lässt sich im Zusammenhang zwischen erhöhter Gefährdung von Menschen in psychischen Ausnahmesituationen von der Polizei erschossen zu werden auch struktureller Ableismus feststellen. Ableismus meint die strukturelle Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung und ist in diesem Kontext bezogen auf Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, was eine Form der seelischen Behinderung darstellt. Dieser Mechanismus ist sowohl in der Gesellschaft als auch im institutionellen Rahmen präsent. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass es Situationen geben kann in denen Menschen, die sich gerade in einer Psychose oder einer anderweitigen psychischen Ausnahmesituation befinden, eine Gefahr nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen darstellen. In solchen Situationen differenziert die Polizei jedoch oft nicht, wodurch es zu einer Vorverurteilung kommt und die Hemmschwelle einer Person das Leben zunehmen sinkt. Es findet eine Entmenschlichung statt, die in Kombination mit unzureichendem Training für explizit diese Situation und die Einführung von spezialisierten Krisenteams zu solchen Ereignissen führt. Polizeikräfte sind häufig nicht ausreichend geschult, um mit Menschen in psychischen Ausnahmezuständen umzugehen. Dies kann dazu führen, dass Situationen falsch interpretiert und überzogene Gewalt angewendet wird. Diese Ausbildungslücken spiegeln ableistische Strukturen wider, da sie zeigen, wie wenig Wert auf den Schutz und die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe gelegt wird. Die mangelnde Berücksichtigung der Lebensrealitäten und besonderen Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gestaltung von Polizeistrategien ist ein weiterer Ausdruck ableistischer Strukturen. Ableistische Denkweisen und Strukturen können auch verstärkt werden, wenn die Person weitere Diskrimierungsmerkmale ausweist, wie z.B. einen Migrationshintergrund oder eine bestimmte Herkunft. In diesem Fall können sich verschiedene Diskrimierungsmerkmale verschränken. Leider habe ich keine Statistik dazu finden können, wie viele der Menschen, die in einer psychischen Ausnahmesituation erschossen wurden, ebenfalls einen Migrationshintergrund hatten. Es ist jedoch bekannt, dass das Zusammentreffen dieser beiden Diskrimierungsmerkmale mit einem besonders hohen Risiko einhergehen kann, da es innerhalb der Polizei auch rassistische Strukturen gibt und die bereits erläuterten Mechanismen damit die Entmenschlichung der betroffenen Person verstärken können.

In Fällen in denen akut das Leben von Zivilisten bedroht ist, ist ein schnelles Handeln der Einsatzkräfte unerlässlich, um mehr Menschen zu schützen. Natürlich gibt es auch Menschen, die in psychischen Ausnahmezuständen so schlimme Taten verrichten oder versuchen dies zu tun, dass der Schutz von mehr Menschenleben die Priorität hat. Trotzdem gibt es immer wieder auch Situationen wie in dem Fall von Mouhamed, in denen ein Tod durch das richtige, überlegte Handeln und Deeskalation vermeidbar gewesen wäre. Dies ist kein Einzelfall. Es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein.

Unser Sicherheitssystem muss von Grund auf erneuert werden. Die rassistischen und ableistischen Strukturen, die unser derzeitigen Polizeisystem tief verankert hat, müssen durch eine grundlegende Reformierung überwunden werden. Beamte müssen sensibilisiert werden für den Umgang mit Menschen, die durch eine schwerwiegende psychische Krise die Kontrolle über ihr Handeln verloren haben oder nicht klar denken können. Das Training von Einsatzkräften, die dem Schutz der Bevölkerung dienen, muss darauf ausgerichtet sein den Tod einer Person, wenn es irgendwie möglich ist zu vermeiden und angemessen auf eine potentielle Bedrohung zu reagieren. Es müssen Krisenteams eingerichtet werden, aus pädagogisch und psychologisch geschultem Fachpersonal, das in so einer Situation gewaltfrei versucht zu deeskalieren und zusätzlich das Verhalten der Beamten unabhängig überwacht. Fünf Polizist*innen, die einen 16-jährigen nur durch den Schusshagel einer Maschinenpistole bewältigen können und dafür freigesprochen werden, zeigen ein großes strukturelles Problem im Polizeiapparat und Justizsystem auf.

Ruhe in Frieden Mouhamed.

Polizeigewalt: Kugelhagel bleibt ungesühnt, Tageszeitung junge Welt, 13.12.2024

Polizeiliche Todesschüsse 2024 | Statista

Infografik: Wie oft erschießt die Polizei Menschen? | Statista

Fall Dramé: Todesschütze verbeamtet, Tageszeitung junge Welt, 19.12.2024

Fall Dramé: Revision gegen Freispruch beantragt, Tageszeitung junge Welt, 17.12.2024

Wenn Polizisten auf psychisch Kranke schießen | tagesschau.de´´

Datum: 28. Dezember 2024

Hey 🙂 Danke schon Mal, dass ihr der Einladung gefolgt seid. Ich hab bisher kaum jemanden eingeladen, gerade ist der...

Gepostet von Marisa Blog - Stiftung Gewaltfreies Leben am Donnerstag, 27. Oktober 2022