Menschen statt Zahlen: Eine humanitäre Perspektive auf die Flüchtlingsdebatte in Zeiten des Rechtsrucks

2023: So viele Todesopfer während der Flucht wie noch nie

Noch nie wurden weltweit so viele Todesfälle auf Fluchtrouten verzeichnet wie 2023. Laut der UN-Behörde starben 2023 mindestens 8565 Geflüchtete, wodurch die Anzahl der Todesopfer im Vergleich zu 2022 um 20 Prozent gestiegen ist. Die vorherige Rekordzahl lag bei 8084 Toten im Jahr 2016. Knapp über die Hälfte der Toten starben durch Ertrinken, neun Prozent durch Fahrzeugunfälle und sieben Prozent in Folge von Gewalt. Die hohen Todeszahlen lassen sich auch damit erklären, dass sichere Fluchtrouten fehlen und Hunderttausende sich jährlich trotz der Risiken auf die unsicheren Wege begeben müssen, um vor Verfolgung, Krieg und drohender Gewalt fliehen zu können. Die tödlichste Fluchtroute bleibt weiterhin das Mittelmeer. Bei der Flucht über das Mittelmeer sind 3129 Vermisste und Tote verzeichnet worden. (vgl. DW 2024) Seit dem Jahr 2014 konnten 29.827 im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtete registriert werden. (Statista 2024) Auch in Afrika und Asien ließen sich Höchststände der Todesopfer feststellen. So wurden 2023 2138 Todesopfer in Asien und 1866 Todesopfer in Afrika festgestellt. In Asien waren besonders Afghanen und Rohingya-Flüchtlinge betroffen. In Afrika galt ein besonders hohes Risiko auf Fluchtrouten über den See zu den Kanarischen Inseln oder durch die Sahara. Die tatsächlichen Zahlen liegen Schätzungen zufolge jedoch deutlich höher, weil viele Todesfälle nicht entdeckt werden würden. (vgl. DW 2024)

Auch die Anzahl an Geflüchteten war 2023 so hoch wie noch nie. Laut der Uno-Flüchtlingshilfe mussten mindestens 27,2 Millionen Menschen 2023 fliehen. Fast ein Viertel flüchtete in andere Länder. Die restlichen flüchteten innerhalb ihrer eigenen Länder als Binnenvertriebene. Ende 2023 ging man insgesamt von 117,3 Millionen Vertriebenen aus, eine Steigerung von 8 Prozent zum Vorjahr. Bei 120 Millionen soll die Anzahl im Mai 2024 gelegen haben, womit es erneut einen deutlichen Anstieg gab. Ein Trend, der sich seit 12 Jahren in Folge feststellen lässt. Seit 12 Jahren steigt die Anzahl an vertriebenen Menschen jährlich. Eine hohe Anzahl an Betroffenen fliehen innerhalb ihrer eigenen Länder und in direkte Nachbarländer. (vgl. UNO Flüchtlingshilfe 2024)

Wichtig ist zu bedenken, dass hinter jeder dieser Zahlen ein reales Menschenleben steckt. Ein Mensch mit einer Geschichte, mit Träumen, mit Ängsten und Hoffnungen. Es sind nicht nur Statistiken oder abstrakte Daten. Es sind Mütter, Väter, Kinder, Geschwister, Freunde und Geliebte, deren Leben durch Konflikte, Verfolgung oder andere lebensbedrohliche Umstände auf tragische Weise verändert wurden. Jede Zahl repräsentiert einen einzigartigen Lebensweg, der durch Flucht und Vertreibung eine dramatische Wendung genommen hat.

Am 20. Juni war der Weltflüchtlingstag und in vielen Städten fanden Aktionen und Kundgebungen statt, um auf die Belange von geflüchteten Menschen aufmerksam zu machen. Gerade in Zeiten in denen der Rechtsruck weiter voranschreitet, der Rassismus gegenüber Geflüchteten wächst und das Asylrecht weiter ausgehöhlt wird, wie z.B. durch die europäische GEAS-Reform oder das Einführen einer Bezahlkarte für Asylsuchende, ist es wichtiger denn je immer wieder auf die Relevanz dieser Thematik aufmerksam zu machen. Die GEAS-Reform, die darauf abzielt, das Europäische Asylsystem zu überarbeiten, hat zu zahlreichen Kontroversen geführt. Kritiker argumentieren, dass die geplanten Änderungen die Rechte und den Schutz von Asylsuchenden einschränken. Diese Reform ist als ein Schritt anzusehen, der die Solidarität innerhalb der EU schwächt und die ohnehin schon verletzliche Situation von Geflüchteten weiter verschärft. Ich habe hier bereits einen Artikel dazu geschrieben.

Ebenso problematisch ist die Einführung der Bezahlkarte für Asylsuchende, die als entmenschlichend und diskriminierend kritisiert werden kann. Anstatt den Menschen in Not die Unterstützung zu bieten, die sie benötigen, werden sie durch bürokratische Hürden und restriktive Maßnahmen weiter marginalisiert. Solche Entwicklungen tragen dazu bei, das Bild von Geflüchteten als Last für die Gesellschaft zu zementieren, anstatt ihre Bedürfnisse und Rechte als Menschen anzuerkennen und erschwert Asylsuchenden ihre bereits sowieso schon schwierige Lebenssituation.

Es sollte in einer demokratischen Gesellschaft legitim sein, wenn man sachlich über den Umgang mit Migration und Flucht diskutieren kann und auch unterschiedliche Meinungen dabei angehört werden können. Jedoch driftet der derzeitige Diskurs und daraus resultierende politische Forderungen immer weiter in eine Richtung ab, die sich nicht mehr sachlich mit Lösungen auseinandersetzt, wie man zum einen Menschen, die sich in lebensbedrohlichen Situationen befinden und sich deswegen auf die Flucht machen müssen, helfen kann, ohne dass sich diese gefährlichen Fluchtrouten mit hohem Lebensrisiko aussetzen müssen oder wie man gegen Fluchtursachen vorgehen kann, um die Situation in den Herkunftsregionen nachhaltig zu stabilisieren beziehungsweise wie man Geflüchtete zwischen Ländern und innerhalb von Ländern fair verteilen kann und Rahmenbedingungen schaffen kann, in denen sowohl eine Versorgung wie Integrationsunterstützungen gewährleistet sind. Doch der Diskurs und der Ton der Politik bewegt sich leider eher dazu, dass Geflüchtete rein als Problem gebrandmarkt werden. Anstatt konstruktive Lösungen zu suchen, wird zunehmend eine Rhetorik bedient, die Angst, Ablehnung, Sozialneid und Hass schürt. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, da sie nicht nur die betroffenen Menschen weiter marginalisiert, sondern auch die gesellschaftliche Spaltung vertieft. Statt einer sachlichen Debatte erleben wir wie Geflüchtete als Sündenbock für verschiedene gesellschaftliche Probleme herhalten müssen, die überwiegend auf politischen Entscheidungen wie der Sparpolitik und der daraus resultierenden negativen gesellschaftlichen Konsequenzen, fehlender Regulierung des Wohnungsmarktes und fehlende Integrationsunterstützungen zurückzuführen sind.

Wir müssen uns nicht nur am Weltflüchtlingstag, sondern täglich daran erinnern, dass Migration und Flucht komplexe Phänomene sind, die allgegenwärtig bleiben werden und multifaktorielle Lösungen erfordern. Sachliche Diskurse sind erforderlich, die darauf verzichten Geflüchtete rein defizitär zu betrachten, sondern sich den Lösungen für die Probleme widmen, die einerseits zu Flucht führen und anderseits innerhalb der eigenen Gesellschaft durch den Anstieg an Geflüchteten resultieren. Dies muss jedoch ohne Pauschalisierung von Menschengruppen stattfinden. Menschen müssen wieder als Individuen anerkennt werden. Es ist entscheidend, dass wir uns von einer einseitigen Darstellung verabschieden, die Geflüchtete lediglich als Belastung oder Problem darstellt, und stattdessen ihre Potenziale und Beiträge zur Gesellschaft anerkennen, jedoch auch nicht davor zurückschreckt reale Probleme wie teilweise Überlastungen von Kommunen, religiösen Extremismus, Integrationshürden und den Umgang mit schweren Straftätern anzusprechen, ohne dabei Forderungen zu stellen, die zu Lasten aller Geflüchteten gehen wie beispielsweise der Vorschlag Menschen aufgrund von Social Media Likes abschieben zu können oder aufgrund eines Nachnamens der der Clan-Kriminalität zugeordnet wird, ohne selbst eine eigene Straftat begangen zu haben. Solche Forderungen können zu wahllosen Abschiebungen führen, ohne dass die Betroffenen sich selbst etwas zu Schulde haben kommen lassen. Es geht darum, menschenwürdige Bedingungen für alle Beteiligten zu schaffen, was durch Angst und Vorurteile nur erschwert wird. Es wird in den nächsten Jahren auch vor allem darum gehen gegen das gesellschaftliche Klima anzugehen, in dem Geflüchtete immer mehr zum Feindbild erklärt werden und Forderungen nach Massen-Abschiebungen lauter werden, obwohl man damit Menschen in vielen Fällen einer realen Lebensgefahr aussetzen würde, wenn sie in Länder wie Syrien, Iran oder Afghanistan abgeschoben werden.

Quellen: 

DW (2024): UN: 2023 starben so viele Migranten wie lange nicht

Statista (2024): Ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer bis 2024

UNO Flüchtlingshilfe (2024): Flüchtlingszahlen: Flüchtlinge weltweit – Global Trends

Datum: 30. Juni 2024

Hey 🙂 Danke schon Mal, dass ihr der Einladung gefolgt seid. Ich hab bisher kaum jemanden eingeladen, gerade ist der...

Gepostet von Marisa Blog - Stiftung Gewaltfreies Leben am Donnerstag, 27. Oktober 2022